Die soziale Dimension der Corona-Krise in den USA

Analyse

Die Corona-Krise führt zu massiven sozialen Verwerfungen in den USA. Sie verstärkt die historisch gewachsenen strukturellen Ungleichheiten und Diskriminierungen von Wirtschaft und Gesellschaft.

Die Nationalgarde von Michigan unterstützt rund 400 Familien bei der Reaktion auf COVID-19

Die USA im April 2020, das sind kilometerlange Autoschlangen vor Essensausgaben, mehr als 22 Millionen Menschen, die sich arbeitssuchend gemeldet haben, lange Wartezeiten für kranke Menschen, die COVID-19-Tests benötigen und verzweifelte Geschichten von Bürger/innen, die ihre Miete oder ihre Hypothek nicht mehr bezahlen können. Die Corona-Krise legt in aller Härte die sozialen Bruchstellen der US-amerikanischen Gesellschaft offen.

Wachsende soziale Ungleichheit

Medizinische Versorgung, ein Dach über dem Kopf und eine warme Mahlzeit im Magen, die Befriedigung dieser menschlichen Grundbedürfnisse war schon in den letzten Jahren des Rekord-Wachstums der amerikanischen Wirtschaft für viele Bürger/innen des Landes kaum erreichbar. 2018, zu einem Zeitpunkt als die Vermögen wohlhabender Amerikaner/innen in nie gekannte Höhen wuchsen, hatten gleichzeitig 40 % der Bürger/innen weniger als 400 Dollar als Notgroschen verfügbar, sollte es zu unerwarteten Ausgaben kommen. Während die Finanzwirtschaft einen immer größeren Teil der US-Wirtschaft ausmachte, blieb das Steuersystem auf die Besteuerung von Einkommen ausgerichtet anstelle von Vermögen, Unternehmen oder Finanztransaktionen. So ging die soziale Schere immer weiter auseinander. Gleichzeitig gibt es bis heute keinen robusten Sozialstaat für Bedürftige in den USA.

Der amerikanische Traum, dass ein wirtschaftlicher Aufstieg für alle möglich sei, ist schon lange ausgeträumt. Zwei Drittel der US-Amerikaner/innen haben keinen höheren Bildungsabschluss und damit kaum Aufstiegsperspektiven. Umgekehrt gibt es an Elite-Unis wie beispielsweise in Yale und Princeton mehr Studierende aus dem reichsten Hundertstel der amerikanischen Familien als aus den unteren 60 % zusammen genommen.

Die heutige Krise veranschaulicht diese extreme soziale Ungleichheit, und sie verstärkt diese Tendenzen nochmals. Für die etwa 50 Millionen US-Amerikaner/innen, die seit langer Zeit unter der Armutsgrenze leben, ist sie im wahrsten Sinne des Wortes existentiell.

Wie die Krise die Schwächsten der Gesellschaft trifft

Die Corona-Krise trifft die ökonomisch schwächsten Teile der Gesellschaft in mehrfacher Hinsicht besonders hart.

Ärmere US-Amerikaner/innen sind kaum in der Lage, auf Telearbeit zu wechseln und arbeiten weit überproportional in Jobs, die von der Krise unmittelbar betroffen sind wie Hotels und Restaurants, Einzelhandel oder Transportwesen. Mangels eines ausgebauten Sozialstaats und mangels eigener Ersparnisse droht diesen nun nicht nur lange Arbeitslosigkeit, sondern auch Obdachlosigkeit und eine prekäre Lebensmittelversorgung.

Diejenigen, die ihre Jobs weiterhin ausüben oder die in neuen Jobmärkten wie den boomenden Lieferservice-Anbietern Arbeit finden, setzen sich einem höheren Infektionsrisiko aus und das zumeist für einen extrem geringen Lohn. Die landesweiten Engpässe an Schutzkleidung verstärken dieses Risiko nochmals.

Auch das Risiko für an COVID-19-Erkrankten ist innerhalb der USA keineswegs gleichmäßig verteilt. Eine neue Studie legt nahe, dass die Sterblichkeitsrate älterer Menschen in besonders betroffenen Ballungsräumen in den USA direkt mit Armut korreliert und deutlich über derjenigen in Europa liegt. Ein Grund wird in der armutsbedingten höheren Zahl von gesundheitlichen Vorerkrankungen gesehen. Eine weitere Studie legt nahe, dass die Luftverschmutzung ein zentraler Indikator ist, die in den USA geographisch sehr ungleich verteilt ist und sich auf Ballungsgebiete mit einem hohen Anteil ärmerer Bevölkerung konzentriert. Die Gesundheitsversorgung ist zudem von Region zu Region unterschiedlich gut ausgebaut und ausgestattet. Und Millionen US-Amerikaner/innen in wirtschaftlich prekärer Situation haben weiterhin keine Gesundheitsversicherung und scheuen daher schon aus finanziellen Gründen den Arztbesuch, so dringend dieser auch sein mag.

Nicht zuletzt verstärken sich jetzt die sozialen Verwerfungen innerhalb des amerikanischen Bildungssystems. Die US-Schulbezirke werden in erster Linie über lokale Steuern finanziert mit einer entsprechend weiten Spreizung der Ausstattung der Schulen je nach Bezirk. Besonders dramatisch sind diese Auswirkungen mit Blick auf den Zugang der Schulen zu digitalen Lernmitteln, und den digitalen Zugang der Schüler/innen von Zuhause aus. Von einer Wiedereröffnung der Schulen sind die meisten US-Bundesstaaten noch weit entfernt, in mehreren Staaten steht bereits fest, dass es in diesem Schuljahr gar keinen Unterricht vor Ort mehr geben wird. Das ist für betuchte Eltern mit Laptops, Tablets und sicherem Einkommen per Telearbeit meist handhabbar. Für Millionen Familien ohne Internetzugang und in einer prekären Job- und Wohnsituation bedeutet dies keinen oder kaum Zugang zu Bildung für ihre Kinder.

Rassismus und soziale Ungleichheit

Hinzu kommt, dass die sozialen Verwerfungen in den USA seit Gründung des Landes mit Rassismus und einer strukturellen Benachteiligung von Minderheiten einhergehen. Es gibt mittlerweile eine Reihe von Erhebungen, die zeigen, dass Schwarze und Latinos gesundheitlich und wirtschaftlich besonders stark von COVID-19 betroffen sind.

Schwarze und Latinos leben überproportional in den besonders betroffenen Ballungsräumen. Sie haben ein höheres Risiko, an COVID-19 zu erkranken, einen schlechteren Zugang zu Tests und eine höhere Wahrscheinlichkeit eines schweren Krankheitsverlaufs. Sie sind überproportional von krisenbedingten Jobverlusten betroffen. Und trotz Jobs waren bereits vor der Krise 40 % der schwarzen Amerikaner/innen auf Lebensmittelunterstützung angewiesen. Besonders dramatisch ist die jetzige soziale Situation für Alleinerziehende. Und über 60 % der schwarzen Kinder in den USA haben alleinerziehende Eltern, meist Mütter, weit mehr als der landesweite Durchschnitt.

Die Krise trifft die Bevölkerung also keineswegs einheitlich, sondern geographisch, ökonomisch und ethnisch sehr ungleich. Anstatt diese Tatsache politisch zu adressieren und die dringenden Bedürfnisse der empfindlichsten Teile der Bevölkerung in den Vordergrund der staatlichen Hilfen zu stellen, sind Präsident Trump und die republikanische Partei jedoch weiterhin darauf bedacht, die Ausweitung des Sozialstaats in den USA zu begrenzen. Das ist auch davon beeinflusst, dass sie nicht glauben, dass die besonders betroffenen schwarzen und Latino-Bevölkerungsschichten für sie wahlrelevant sind. Im Gegenteil, der Präsident ist in erster Linie damit beschäftigt, Sündenböcke für das Versagen seiner Politik zu finden, einzelne Bundesstaaten gegeneinander auszuspielen und die US-Bevölkerung zu spalten.

Wie geht es weiter?

Die bisherigen Hilfspakete auf Bundesebene sind vor diesem Hintergrund vollkommen unzureichend, um die tiefgehenden sozialen Verwerfungen in den USA zu adressieren, die nicht erst durch das Corona-Virus entstanden sind, sondern durch es vertieft werden.

Das Weiße Haus hat seinen Hauptfokus auf die Rettung großer Unternehmen und die Stützung der Aktienmärkte gerichtet. Der vergleichsweise kleine Fonds für die Rettung kleiner Unternehmen ist bereits aufgebraucht und wurde laut Medienberichten zudem in Teilen zweckentfremdet für die Unterstützung großer Restaurant- und Hotelketten. Daneben werden Steuerzahler mit symbolischen Hilfsschecks bedacht, signiert von Donald Trump. Diese sind zwar leicht gestaffelt nach Einkommen, aber mehr ein Wahlkampfgeschenk als eine bedarfsgerechte Unterstützung derjenigen Bürger/innen, welche die Hilfe am Meisten benötigen. Daneben gibt es eine Ausweitung von Unterstützung mit Lebensmitteln und eine begrenzte Stärkung von Arbeitnehmerrechten.

Aber nichts davon geht bislang den Kern des Problems an, dass ein großer Teil der US-amerikanischen Bevölkerung, und von diesen vor allem Schwarze und andere Minderheiten, in sozial prekären Verhältnissen lebt und am wirtschaftlichen Aufschwung der USA schon seit mehr als einer Generation nicht mehr teilhat.

Auf Seiten der Demokraten jedoch gibt es weitergehende Debatten. Die Kandidatur von Bernie Sanders und die stärker progressive Ausrichtung der Partei insgesamt hat zu einer lebhaften Diskussion über die künftige Ausgestaltung des Sozialstaats und des Gemeinwesens in den USA geführt. So wurde schon vor einem Jahr ein „Green New Deal“ ins Spiel gebracht, der eine nachhaltige und klimagerechte Entwicklung der USA verbindet mit Fragen von struktureller Diskriminierung und sozialer Ungleichheit.

Es ist offen, in welchem Maße Joe Biden als Präsidentschaftskandidat auf diese Konzepte zurückgreifen wird. Aber es erscheint vor dem Hintergrund der Krise zumindest denkbar, dass sich die Demokraten – analog zum „New Deal“ von Franklin D. Roosevelt – im Rahmen des Wahlkampfes für eine umfassende strukturelle Reform des amerikanischen Sozialstaats und der amerikanischen Wirtschaft einsetzen werden, welche mehr Bildungsgerechtigkeit sichert, den Zugang zu bezahlbarer Gesundheitsversorgung deutlich ausweitet, Arbeitnehmer/innenrechte stärker schützt und den strukturellen Rassismus der USA adressiert.

Damit solch ein Ansatz erfolgversprechend ist, müssten die Demokraten allerdings anerkennen, dass die Mär von der amerikanischen Meritokratie eine solche ist. Der tiefsitzende Glaube an die USA als ein System, dass allen Menschen gleiche Grundvoraussetzungen bietet, und ihr gesellschaftliches und wirtschaftliches Vorankommen nur von ihren Fähigkeiten und Bemühungen abhängig macht, ist mitverantwortlich für den unbegründeten Glauben der wohlhabenden Teile der amerikanischen Gesellschaft, sie hätten sich ihren Status redlich „verdient“ und des mangelnden Mitgefühls mit den Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Und dieser Irrglaube ist mitverantwortlich für das durch die Corona-Krise ausgelöste grassierende soziale Elend, das dieses Land heute prägt.